Die Altbebauung im ehemaligen Reichelschen Garten

Im Jahre 1700 kommt der Großkaufmann und Manufakturbesitzer Andreas Dietrich Apel (1662-1718) durch Heirat und Zukäufe in den Besitz eines Gartengeländes im Gebiet der heutigen Inneren Westvorstadt. Das fortan Apelscher oder Apels Garten genannte Areal wird vom Pleißemühlgraben durchflossen, der den weitaus größeren, westlich gelegenen Teil abtrennt. Auf dem östlichen, zunächst noch direkt an die städtischen Festungsanlagen grenzenden Grundstück lässt Apel eine Brokatmanufaktur mit mehreren Trakten für Färberei, Appretur und Arbeiterwohnungen errichten und hier textile Luxuswaren fabrizieren.

Nach Apels Tod wird der Garten unter den Erben aufgeteilt, gelangt 1787 in den Besitz des Kaufmanns Erdmann Traugott Reichel (1748-1832) und damit auch zu dessen Namen. Reichel lässt die Apelsche Manufaktur abreißen und in den Jahren 1789-92 auf dem Gartenareal zwei stattliche Häuser errichten: Der erste Bau, ein Wohnhaus mit 23 Fensterachsen, steht quer zur Hauptachse des Gartens und bildet den westlichen Abschluss der zentral gelegenen Grünanlage. Ein Torbogen führt zu den Säulengängen (Kolonnaden) die beide Seiten der späteren Kolonnadenstraße markieren. Reichels Quergebäude wird 1849 um ein Geschoss aufgestockt und erhält bald darauf eine neue Historismusfassade sowie Ladenlokale im Erdgeschoss. Das dreiflügelige Reichelsche Vorderhaus, östlich des Pleißemühlgrabens gelegen, dient u. a. als Domizil der Besitzerfamilie. Reichels älteste Tochter Christiana Dorothea (1781-1857, verheiratete Heine) bringt 1819 hier ihren ersten Sohn Ernst Carl Erdmann zur Welt. Damals ahnte noch niemand, dass dieser einmal Jura studieren und später als Industriepionier der westlichen Vororte eine der berühmtesten Leipziger Unternehmerpersönlichkeiten werden sollte. Auch Heines spätere Frau Dora Trinius lebte als eines der Nachbarskinder im gleichen Haus.

Als einziger Zugang führt eine enge Tordurchfahrt im Reichelschen Vorderhaus mit anschließender Brücke über den Mühlgraben zur Hauptachse des Gartens, ab 1845 Dorotheenstraße, seit 1912 Otto-Schill-Straße genannt. Dies erweist sich zunehmend als Verkehrshindernis, Abhilfe schafft 1890 der Abbruch des nördlichen Gebäudeflügels. Im Folgenden entstehen hier nach Plänen des Architekten Paul Jacobi zwei symmetrisch gestaltete Eckbauten in den prachtvollen Formen der Neorenaissance. Die beiden Wohn- und Geschäftshäuser sind gegenwärtig in Universitätsbesitz bilden noch heute das Tor zur Westvorstadt.Doch auch der verbliebene Teil von Reichels Vorderhaus entsprach inzwischen nicht mehr den neuen Maßstäben zeitgemäßer großstädtischer Bebauung. Daran konnte auch das ebenso beliebte wie traditionsreiche Café Metz im Erdgeschoss mit seinen täglichen Konzert- und Varietéaufführungen nichts ändern.

An gleicher Stelle wird in den Jahren 1914/15 der moderne Geschäftshausneubau Rathausring 13 (das heutige Lipanum) errichtet. Die Pläne dafür liefert der aus Norwegen stammende Architekt Peter Dybwad (1859-1921), bekannt durch den Bau des Reichsgerichtshofes 1888-95 zusammen mit Ludwig Hoffmann.

Auch die schmale Tordurchfahrt im Reichelchen Quergebäude, mittlerweile Dorotheenpassage genannt, erweist sich mit zunehmendem Verkehr immer wieder als Nadelöhr. Um 1912 kursieren mehrere Neubauprojekte mit zwei einzelnen Eckhäusern, von denen jedoch keines zur Ausführung gelangt. Somit wird dieses Problem durch die Zerstörungen des II. Weltkrieges „gelöst“. Danach sollten noch über vier Jahrzehnte bis zur Neubebauung des Dorotheenplatzes vergehen: Erst 1986-89 verwirklicht man ein Projekt des damaligen Chefarchitekten Dr. Dietmar Fischer. Bis heute gilt es als eines der wenigen Beispiele ansprechender Plattenbauarchitektur in Leipzig.
Noch heute erinnern einige Orte an die ehemaligen Gärten und deren Besitzer: Eine Gasse heißt seit 1923 Apels Garten (später auch ein Restaurant). Während Erdmann Traugott mit der 1906 benannten Reichelstraße geehrt wird, weisen die Moritzstraße (1840-1985, heute Manetstraße) sowie die Alexanderstraße (seit 1848) auf seinen Sohn bzw. Enkel hin. Gleich mehrere Male wird Karl Heines Mutter bei Namensvergaben bedacht: Bereits erwähnt wurden Dorotheenstraße, -platz und -passage, um 1900 gibt es in der Nachbarschaft zwei Restaurants namens Dorotheenhof und -garten sowie eine gleichnamige Badeanstalt. Ein weiterer Dorotheenhof, diesmal ein Wohn- und Geschäftshauskomplex wird 1997 eingeweiht, schließlich trägt auch die 1999 neu erbaute Brücke über den Pleißemühlgraben wieder diesen Namen.

Den südwestlichen Abschnitt der Ringstraße, die nach Abbruch der Festungsanlagen entsteht, nennt man ab 1839 offiziell „An der Pleiße“, mit Beginn der Bauarbeiten am Neuen Rathaus kommt 1898 die Bezeichnung Rathausring auf. Die vorerst letzte Umbenennung erfolgt 1933 in Martin-Luther-Ring zum 450. Geburtstag des Reformators.

Frank Rohn, April 2011

Textquellen

  • Innere Westvorstadt – Eine historische und städtebauliche Studie, Pro Leipzig e.V., 1998
  • Gina Klank, Gernot Griebsch: Lexikon Leipziger Straßennamen, Verlag im Wissenschaftszentrum Leipzig, 1995
  • 2010 – Verlorene Gebäude im Kolonnadenviertel Leipzig
  • 2011 – Straßen und Plätze im Kolonnadenviertel (Kalender des Bürgervereins Kolonnadenviertel e.V. Leipzig, 2009/2010)

Bildquellen

  • Stadtgeschichtliches Museum Leipzig
  • Ansichtskartensammlung Rohn
  • Luftbild: PUNCTUM/Bertram Kober

Dieser Kupferstich von Paul Christian Zincke zeigt die Apelsche Brokatmanufaktur sowie den gleichnamigen Garten mit seiner charakteristischen Fächerform im Jahre 1711. Die Anlage galt als Kleinod Leipziger Gartenbaukunst, kein Geringerer als August der Starke und der kurfürstliche Hof gaben hier während ihrer Messebesuche glanzvolle Gartenfeste.

Das 1789 errichtete Quergebäude im dicht begrünten Zentrum von Reichels Garten um 1830. Links im Bild die Venus-Statue, sie entstand 1705/06 zusammen mit drei weiteren Kolossalfiguren (Jupiter, Juno und Mars) in der Dresdner Bildhauerwerkstatt von Balthasar Permoser (1651-1731) als Inventar für Apels Garten.

Blick von Südosten auf Reichels (Vorder-) Haus um 1830. Der Bau war mit seinen 41 Fensterachsen durchaus eine imposante Erscheinung. Leider konnte er aber wegen seiner einfachen spätklassizistischen Formen in dieser exponierten Lage schon bald nicht mehr den gewachsenen architektonischen Ansprüchen genügen.

Stadtplanausschnitt von 1840: In der Bildmitte das Quergebäude mit den Kolonnaden, rechts oben die Pleißenburg, dazwischen das Vorderhaus. Reichel und seine Erben strebten eine effektivere Nutzung der Gartenanlage an. Zwanzig Jahre zuvor hatte man etwa 100 Pachtgärten angelegt, die teilweise mit kleinen Sommerhäusern bebaut waren. Schrittweise begannen nun Erschließung, Verkauf und Neubebauung der Grundstücke.

Das Reichelsche Vorderhaus um 1880: Ein riesiges Eisernes Kreuz wirbt für das beliebte Café Metz und erinnert offenbar an die erfolgreiche Belagerung des Moselstädtchens im Deutsch-Französischen Krieg 1870. Der allgemeine Siegestaumel führte überall im Kaiserreich zu solchen patriotisch motivierten Benennungen von Lokalen und Straßen. Die Gleise der Leipziger Pferdebahn hatte man im Eröffnungsjahr 1872 verlegt.

Blick vom Neuen Rathausturm 1913: Durch die verkehrsbedingte Neubebauung eingangs der Dorotheenstraße 1890 hat Reichels Vorderhaus seinen Nordflügel und damit auch seine Symmetrie eingebüßt. Schon im Jahr darauf erfolgt der Totalabbruch zugunsten eines Geschäftshausneubaus.

Das repräsentative Geschäftshaus Rathausring 13 im Jahre 1920. Zu den ersten Nutzern bei seiner Fertigstellung 1915 gehörten u. a. das Verlagshaus Otto Beyer sowie das Bankhaus Knauth, Nachod & Kühne. In den Jahren 1995/96 erfolgte eine originalgetreue Restaurierumg, verbunden mit der Benennung in Lipanum.

Das ehemalige Reichelsche Quergebäude am Dorotheenplatz um 1910. Die Lokalitäten Café-Restaurant Zur Drotheenpassage (N° 2) konkurrierte mit dem Wiener Café Dorotheenplatz (N° 3), beide wurden noch in den 1920er Jahren geschlossen. Das prachtvolle Gebäude selbst fiel dem verheerenden Luftangriff auf Leipzig am 4. Dezember 1943 zum Opfer.

Das Luft bild zeigt den Dorotheenplatz mit seiner heutigen Bebauung: Reichel-, Friedrich-Ebert- und Elsterstraße lassen noch die markante Fächerform des einstigen Gartenareals erkennen, den Eingang der Kolonnadenstraße schmücken Kopien der beiden Permoser-Statuen Jupiter und Juno, die durch die Bildhauer Stefan Bubner (Görlitz) und Christian Walter (Leipzig) angefertigt und 1994 hier aufgestellt wurden.

 


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